Das verzauberte Amulett

von Marie-Sophie Calmano

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte eine Frau mit ihren geliebten drei Töchtern in einer alten Mühle. Sie waren keine reiche Familie, weil der Vater sie verlassen hatte.

Nun trug es sich einmal zu, dass die Mutter erkrankte. Sofort ging die jüngste Tochter in den Wald und sammelte zwölf Pilze, um der Mutter eine Suppe zu kochen. Doch als sie zurückkam, waren weder ihre Mutter noch ihre Schwestern zu finden. Sie schaute in der Küche, im Schlafzimmer und sogar in dem Stall für die Schafe nach, doch nirgends war eine Spur von ihnen. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte bitterlich.

Da hörte sie plötzlich ein Stimmchen, das sprach: „Suchst du deine Familie?” Die Müllerstochter nickte stumm. Vor ihr saß ein kleiner Kobold im Stroh. Da murmelte er: „Du bist nicht die einzige, der die Familie gestohlen wurde. Der böse Zauberer Zakada hat mir meine Kinder gestohlen! Aber allein kann ich sie nicht retten. Würdest du mir helfen?” „Natürlich!”, rief sie.

“Wir brauchen dafür einen fliegenden Besen, einen Verwandlungstrank und den Schlüssel für ein Amulett. Beeile dich! Heute um Mitternacht will er all seine Opfer in Steinfiguren verwandeln, und dann kann sie niemand mehr retten”, antwortete der Kobold. Aufgeregt fragte die Müllerstochter: „Aber wo finden wir einen fliegenden Besen?” Da überreichte er ihr eine Karte. Das Mädchen überlegte kurz, und dann hatte sie eine Idee: „Natürlich, die drei Hügel! Lass uns losgehen.”

Sie mussten zwei Stunden wandern, bis sie endlich an den drei Hügeln angekommen waren. Sie suchten überall und schauten unter jeden Stein. Aber nichts. Als die Müllerstochter sich ausruhen wollte und sich auf einen Stein setzte, stöhnte sie entmutigt: „Zumindest regnet es nicht auch noch.“ Doch wie aufs Stichwort kam ein Schauer vom Himmel hinab. Und da sahen sie es: Durch den Regen wurde das Moos von den Steinen gespült, und dahinter kam der Besen zum Vorschein. Der Kobold drängte: „Komm! Uns fehlen nur noch zwei  Gegenstände.“ Da stiegen sie auf den Besen und flogen zu der Höhle, in der sie den Verwandlungstrank vermuteten. Als sie die Höhle betreten wollten, hörten sie ein Geräusch. Erschrocken sagte das Mädchen: „Wir können hier nicht reingehen. Hier lebt bestimmt ein Bär!“ Doch das hielt den Kobold nicht ab und er ging furchtlos hinein. Als der Kobold von drinnen rief: „Hier ist kein Bär, haha, komm rein!“, schlich das Mädchen hinein und sah: einen Wanderer, der schnarchte. Die beiden gingen noch tiefer in die Höhle. Ganz am Ende des Ganges war eine Nische, in der der Verwandlungstrank stand. Sie schlichen sich wieder aus der Höhle, stiegen auf den Besen und flogen zum See.

Da sagte der Kobold: „Oh nein, die Enten versperren uns den Weg zum Tauchen.“ Aber die Müllerstochter hatte eine Idee: Sie zog aus ihrer Manteltasche ein altes Brötchen und meinte: „Lock die Enten damit aus dem See, in der Zwischenzeit tauche ich und hohle den Schlüssel.“ So taten sie es: Der Kobold lockte die Enten weg, und das Mädchen tauchte zum Grund des Sees. Als sie ganz unten angekommen war, sah sie nichts außer Algen, Muscheln und ein paar Fischen. Enttäuscht schwamm sie zurück zur Oberfläche. Da fragte der Kobold: “Hast du ihn gefunden?“ „Nein“, antwortete das Mädchen traurig. Der Kobold wurde ungeduldig und meckerte: „Das kann doch nicht so schwer sein! Es gibt doch schließlich keine Schatulle da unten.“ „Das ist es!“, rief die Müllerstochter und sprang wieder ins Wasser. Nach einer halben Minute kam sie mit einer verschlossenen Muschel in der Hand wieder nach oben. „Hier drin ist der Schlüssel“, sagte sie. Die beiden lehnten sich vor und sahen einen goldenen Schriftzug auf der violetten Muschel. Darauf stand: „Willst du, dass ich mich öffne, dann gebrauche deinen Verstand. Benutze den Trank, jedoch nicht für dich, sondern mit einer sicheren Hand. Dieser Gegenstand ist lang, aus Holz und am Ende behaart, suche dies und begehe damit eine gute Tat.“

Die beiden rätselten, doch die Zeit drängte. Denn in der Ferne konnte man die Kirchturmuhr hören, die 22 Uhr schlug. Da fiel der Blick des Koboldes auf den Besen. Er murmelte: „Lang, aus Holz und am Ende behaart. Das meinte das Rätsel! Gib mir den Trank.“ Er zupfte eine Borste des Besens ab und goss den Verwandlungstrank  über das Haar des Besens. Es verwandelte sich in einen Meißel. Ein paar Mal musste er damit auf die Muschel schlagen, und schon war sie offen. Darin lag der goldene Schlüssel. Die Müllerstochter rief: „Endlich! Jetzt können wir zum Schloss des Zauberers fliegen!“ Sie stiegen in die Lüfte und nach über einer Stunde waren sie endlich am Eingangstor des Schlosses angekommen. Wie zu erwarten, war das Tor verschlossen. Da entdeckten sie, dass noch eines der pompösen Fenster offenstand. Sie flogen hindurch und landeten in der Schlafkammer des Zauberers. Hier war keine Spur von ihm. Doch dann stand plötzlich wie aus dem Nichts der Zauberer hinter ihnen. Er sprach: „Sucht ihr vielleicht mein Amulett, in dem ich meine Gefangenen einsperre? Doch daraus wird nichts, denn in 12 Minuten ist Mitternacht.“ Und schon war ein Kampf im Gange. Minute um Minute verstrichen. Jetzt waren es nur noch 7 Sekunden bis Mitternacht.

Der Zauberer richtete dabei sein Amulett in Richtung der Müllerstochter und des Koboldes. Er versuchte auch sie zu Stein werden zu lassen. Dabei murmelte er einen Zauberspruch. Die Müllerstochter kauerte sich vor Angst auf den Boden. Dabei riss sie unabsichtlich ein Tuch von einem länglichen Gegenstand hinunter. Es war ein Spiegel. Der Zauberspruch traf so auf den Spiegel und wurde auf den Zauberer zurück geworfen. Dieser verwandelte sich sogleich vor ihren Augen zu Stein. Das Einzige, was nicht zu Stein wurde, war das Amulett. Die Müllerstochter holte den Schlüssel hervor und öffnete das Amulett vorsichtig. Zu ihrer Verwunderung kamen nicht nur die Koboldkinder, ihre Mutter und ihre beiden Schwestern zum Vorschein. Sie konnte ihren Augen kaum trauen, denn zum Schluss kam ihr Vater aus dem Amulett, den sie, seit sie 4 Jahre alt war, nicht mehr gesehen hatte. Er berichtete: „Zakada hat mich vor all den Jahren in dem Amulett eingesperrt.“ Die Tochter war sprachlos und fiel ihrem Vater in die Arme.

Doch dann sagte sie entschlossen: „Ich habe noch eine Sache zu erledigen.“ Sie nahm das Amulett und stieg auf ihren Besen. Sie flog damit, bis sie über einem riesengroßen Ozean angekommen war. Dort nahm sie Schwung und warf das Amulett so weit weg, wie sie konnte.

Sie drehte sich noch einmal um und flog dann zufrieden zurück zu ihrer Familie. Und wenn das Amulett nicht gefunden wurde, liegt es noch heute in den Tiefen des Ozeans.   

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